bet  haskala

Die kleine Synagoge im Norden Berlins  

 
 

Das Reformjudentum in der Krise?

Im Jahr 2018 scheint es für die Religionsausübung nur noch zwei Kategorien zu geben: sie wird gar nicht mehr praktiziert oder mündet ins Extreme. Das gilt in gewisser Weise auch für das Judentum…

Von Jennifer Neßler

Vor circa 200 Jahren nimmt das Reformjudentum in Hamburg seinen Anfang. Der wohl bekannteste Ideengeber dieser Bewegung war Abraham Geiger. Viel wurde erneuert: die Liturgie wurde gekürzt, neben der Bar Mitzwa wurde die Bat Mitzwa eingeführt, die Gottesdienste wurden nach und nach egalitär und Frauen wurden genauso zur Torah gerufen wie Männer.

Doch sieht man sich in den letzten Jahren in der jüdischen Religionslandschaft um, so hat man den Eindruck, dass diese vermeintlichen Fortschritte in der Generation der unter 40-jährigen keine wirkliche Rolle mehr spielen. Es erweckt immer mehr den Anschein, dass für junge Juden in Deutschland das liberale Judentum keine Option mehr ist.

Die zahlreichen jungen Israelis, die ihre Heimat und ihre, oft orthodox geprägten, Familien verlassen und nach Berlin strömen, wollen von ihrer Religion meist nichts mehr wissen. Im besten Fall sind sie „Drei-Tage-Juden“ und besuchen den Gottesdienst zu den wichtigsten Feiertagen. In die Synagoge zum Schabbath? Nein, danke. Und auch an den Hohen Feiertagen besuchen sie lieber einen „richtigen“ Gottesdienst – in einer orthodoxen Gemeinde. Andere junge Juden leben ganz strickt orthodox. Frauen und Männer sitzen im Gottesdienst getrennt, die Frauen gehen nicht zur Torah, zuhause lebt man koscher – inklusive zweier Kühlschränke. „Koscher Style“ und die Töchter Bat Mitzwa feiern lassen kommt nicht in Frage. Dieses Bild spiegelt sich auch wider, wenn man einen Blick in die Synagogen in Berlin und im Rest des Landes wirft: In orthodoxen und nicht egalitären konservativen Gemeinden sieht man viele junge Leute, auch Familien mit Kinder sind keine Rarität. Und die liberalen Gemeinden? Sie leiden an chronischer Überalterung. Das gefühlte Durchschnittsalter in diesen Gemeinden liegt bei ungefähr 60 Jahren, Familien mit Kindern oder junge Leute, die bald Kinder in die Gemeinde bringen könnten: Fehlanzeige.

Ganz anders ist das in den USA oder in England. Auch hier gibt es starke orthodoxe und konservative Strömungen, doch das Reformjudentum dominiert merklich. Man kann sagen, was in Deutschland seinen Ursprung hatte, blühte in den letzten 50 Jahren, besonders in den USA, auf. Synagogen wie die der Chicagoer „Sinai“-Gemeinde sind am Schabbath vollbesetzt. Und hier spielt es keine Rolle, ob zum Kabbalat Schabbath oder zum Schabbath Schacharit. Die ganze Familie kommt zusammen, man betet nach dem reformierten Ritus und isst zusammen Lachsbagel. Kinderbetreuung ist selbstverständlich. Ebenso die Gleichberechtigung von Mann und Frau, während und auch nach dem Gottesdienst.

Vielleicht liegt es auch an der „typisch deutschen“ Dogmatik, an der „das haben wir schon immer so gemacht“-Einstellung, dass junge deutsche Juden, sofern sie gläubig sind und ihren Glauben praktizieren, dazu tendieren, dies „wenn schon, dann richtig“ zu tun. Vielleicht ist es auch eine Art Abgrenzung, der Versuch, sich stärker von den jungen Juden zu distanzieren, für die die Religion eben keine Rolle mehr spielt, eine Abgrenzung von der vorangegangenen Generation, die aufgrund der Erfahrungen und Schicksale ihrer Eltern und Großeltern oft mit ihrem Judentum hinter dem Berg halten mussten. Es mag auch bei dem Einen oder Anderen die pure Überzeugung sein.

Doch in Zeiten der religiösen Radikalisierung und des muslimischen Antisemitismus sollten insbesondere Juden daran denken, wo die Gründe für die religiöse Radikalität liegen und warum man einst angetreten war, das Judentum zeitgemäß zu reformieren. Junge Juden sollten sich deshalb darauf zurückbesinnen, was vor ungefähr 200 Jahren in Hamburg einmal begann.



Die Autorin

Jennifer Neßler ist Mitglied der unabhängigen synagogengemeinde berlin – bet haskala und stellv. Vorsitzende des Freundeskreises Chawerim schel bet haskala.

Sie engagiert sich aktiv im Gemeindeleben und amtiert häufig als Vorbeterin in unseren Gottesdiensten.

Jennifer Neßler hat Ihr Geschichtsstudium an der FU Berlin mit dem Bachelorabschluss beendet und arbeitet derzeit an ihrer Masterarbeit.


 
 
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